Rezension von Die Legenden von Andor


(Diese Rezension basiert auf einem Rezensionsexemplar, das uns freundlicherweise von KOSMOS bereitgestellt wurde.)

Rezension

Die Legenden von Andor
Das Spiel "Die Legenden von Andor" ist in vielerlei Hinsicht eines der außergewöhnlichen Spiele des diesjährigen und auch der vorherigen Spielejahrgänge. Mit Michael Menzel versuchte sich der derzeit etablierteste Spielegrafiker als Autor an einem eigenen Spiel und der Kosmos Verlag leistete sich dafür eine geradezu beispiellose Werbekampagne. Zusammen mit der Agentur soma- labs wurde ein Alternate Reality Game (ARG) ersonnen, das eine große Erwartungshaltung in der Spiele-Szene erzeugte. Dafür wurden Spieleblogger/innen und -journalist/innen kryptische Briefsendungen zugestellt, die diese gemeinsam auf eine Schnitzeljagd durch ganz Deutschland schickten und nach mehreren Wochen in einer Abschlussveranstaltung endete. Zugleich knüpft das Spiel an die aktuellen Erfolge kooperativer Spiele wie "Die verbotene Insel", "Der Hexer von Salem" und "Space Alert" an, verbindet dieses Spielprinzip mit Rollenspiel-Elementen und bedient sich gleichzeitig am Sujet von J.R.R. Tolkien, welches mit "Der Hobbit" gerade eine weitere Leinwandverfilmung erfuhr.

Thema & Ziel des Spiels
Wir spielen die fiktiven Legenden des Königreiches von Andor durch. Dafür schlüpfen die Spielenden in die vier Charaktere Kram der Zwerg (oder Bait die Zwergin), Thorn der Krieger (oder Mairen die Kriegerin), Pasco der Bogenschütze (oder Chada die Bogenschützin) und Liphardus der Zauberer (oder Eara die Zauberin). Wiederkehrendes Spielprinzip ist, dass die Charaktere Aufgaben auf dem Spielplan Andor oder in der Mine erledigen müssen, bevor eine bestimmte Anzahl der Kreaturen ein bestimmtes Feld erreicht hat. Durch bestimmte Entscheidungen der Gruppe, die zu kooperativem Handeln gezwungen ist, und durch bestimmte Zufallskarten werden die Helden dabei mit vorhersehbaren und unvorhersehbaren Situationen konfrontiert. Die Legende ist erfolgreich bestanden, wenn das vorgegebene Legendenziel erreicht wurde. Alle Legenden bauen dabei aufeinander auf und werden durch die Meta-Geschichte des Königreiches Andor miteinander verbunden.

Spiel-Vorbereitungen
Da jede Legende anders ist, muss zu Beginn den spielvorbereitenden Anweisungen der jeweiligen Legendenkarten gefolgt werden. Dabei werden die jeweiligen Ausgangssituationen auf dem Spielplan hergestellt, die jeweiligen Ereigniskarten und Gegenstände bereitgelegt und Spielcharaktere für die Legende präpariert werden.

Spielablauf
Der Spielablauf der Legendenrunden ist weitestgehend gleich. Eine Runde umfasst immer einen Tag, der wiederum in 7 Stunden eingeteilt ist (plus 3 mögliche "Überstunden"). Jeder Bewegungsschritt auf den Spielplanfeldern oder jede Kampfaktion kostet die Charaktere eine Stunde auf der Zeitleiste. Beenden sie ihre Bewegung, so ist der nächste Charakter im Uhrzeigersinn dran. Untereinander können die Charaktere Gegenstände austauschen, die bestimmte Charakter-Fähigkeiten verbessern können. Ein Kampf mit einer Kreatur (Gor, Skral, Troll oder Wardrak) oder feindlichen Person wird über Würfel ausgetragen, deren Anzahl sich nach den aktuellen Willenspunkten richtet und mit den aktuellen Stärkepunkten des Charakters addiert wird. Durch die Kämpfe gewinnt man einerseits Geld oder weitere Willenspunkte hinzu, andererseits werden die Kreaturen auf dem Spielplan ausgeschaltet. Haben alle Charaktere ihre Tagesstunden auf der Zeitleiste verbraucht, so rücken die Kreaturen in einem vorgegebenen Muster auf dem Spielplan weiter vor und gelangen so immer weiter zu dem Feld, auf dem man sie laut Legendenziel meist nicht haben möchte. Wahlloses Massakrieren der Kreaturen ist aber nicht ratsam, da nach jedem Ausschalten einer Kreatur eine Erzähler-Figur auf der so genannten Legendenleiste ein Feld vorrückt (nach jedem vollendeten Tag geht der Erzähler ebenfalls ein Feld weiter). Diese Legendenleiste besitzt Felder in alphabetischer Reihenfolge von A bis N. Sobald der Erzähler auf dem Feld N angekommen ist, so endet die Legende und das vorher ausgegebene Legendenziel muss dann erfüllt sein.

Gesamteindruck
Die Legenden von Andor ist, was die Verbindung von Spielmaterial, Grafik, Illustration und Geschichte angeht, eines der stimmigsten Spiele der vergangenen Jahre. Die Verschmelzung von Autor und Illustrator in einer Person zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie in Spielen Tiefe in Mechanik und Geschichte erzielt werden kann, wenn sich beide aufeinander beziehen, sich gegenseitig unterstützen und tragen. Normalerweise werden zunächst Spielprinzip und -mechanik von einem Autor entworfen, anschließend versucht der Illustrator beides optisch in der Grafik umzusetzen. Hier wurden einmal beide Schritte in einem Prozess miteinander vermengt. Das Ergebnis ist so gelungen, dass man sich für die Zukunft wünschen würde, dass sich mehr Spiele-Illustratoren als Autor an einem Brettspiel versuchen würden. Hinzukommt eine Opulenz des Spielmaterials an Qualität wie Quantität, bei der einzig das geeignete Innenleben der Spielschachtel fehlt, um dies angemessen und praktisch unterzubringen.

Wie die meisten Rollenspiele ist die Spielgeschichte von Andor in einer fiktiven Fantasywelt angesiedelt. Diese erinnert sehr an den Tolkien'sche Mittelerdetopos. Die Helden könnten genauso gut Namen wie Gandalf, Boromir, Legolas und Gimli tragen, die Kreaturen nicht Gors sondern Orks heißen und das Königreich Andor Gondor. Hier wie dort existiert ein böser Drache, eine zu beschützende Festung der Menschen, eine Mine, in der es von allerlei Getier und Gefahren wimmelt und ein scheinbar ewiger Kampf zwischen Gut und Böse. Es ist fast schon erstaunlich, dass der Verlag KOSMOS noch keine Abmahnung aus Hollywood bekommen hat. Und gerade weil es diese Überschneidungen gibt, wird das Spiel in Sachen Spielstimmung noch ein bisschen besser, wenn man beim Spielen von Andor einen der Herr der Ringe-Soundtracks von Howard Shore anspielt.

Dank der Losspiel-Anleitung sind wir fast sofort in der Geschichte: Wer bekommt wie viel Geld, wer einen Gegenstand? Ich gehe in den Wald und suche nach Hexe, du besorgst dir Stärkepunkte, ach nein, dass macht lieber der Zwerg bei der Mine; der Bogenschütze kann die Bauern in Sicherheit bringen und gleichzeitig den Gor fertigmachen; und wenn du mich bei der Brücke triffst und mir noch ein Geldstück gibst, dann könnte ich mir noch den Helm kaufen! Andor entwickelt schnell eine Eigendynamik und zieht die Spieler förmlich in seine Geschichte hinein.

Weitermachen, immer weitermachen!

Dadurch, dass die Legenden aufeinander aufbauen und von sehr leicht bis sehr schwierig reichen, ist es möglich, dass die Spielenden fast schon mit Beginn der Spielanleitung im Spielgeschehen sind. Die erste Legende darf als eine Art Einleitung und Vertrautmachung mit dem grundlegenden Spielprinzip verstanden werden, in jeder weiteren Legenden kommen neue Regeln und Spielelemente über die Legendenkarten hinzu. Ja, das hat seinen Reiz, denn hier muss nicht eine ellenlange Regel durchgeackert werden und man erfährt immer nur das, was auch wirklich notwendig für die aktuelle Legende ist. Dadurch, dass zum Teil Legendenkarten erst irgendwann während des Spiels vorgelesen werden, kommen neue Möglichkeiten erst innerhalb des Spiel ins Geschehen – eine unglaublich dichte narrative Atmosphäre ist die Folge. Immer wieder stehen die Spielenden wie die Helden einer Fantasy-Erzählung gefühlt "mit dem Rücken zur Wand", das Spielziel scheint nicht mehr schaffbar und die Heldengruppe verloren – doch plötzlich taucht da ein Zwerg auf, bietet Hilfe an, taucht ein Troll auf mit einem prallgefüllten Sack Gold, den man ihm nur noch abnehmen müsste; das Mantra Oliver Kahns "Immer weitermachen, niemals aufhören!" wird hier nicht nur einmal rezitiert.

Trotzdem besitzt das Spiel bei der Aufbereitung der Regeln Schwachstellen, denn das Begleitheft, welches in Kurzform über zentrale Regeln informiert, hätte sehr ausführlicher sein können. Es kommt immer wieder vor, dass bestimmte Sachverhalte und Fragen nachgeschlagen werden müssen – nur stehen diese meist auf den Legendenkarten (oft sogar auf denen anderer Legenden), sodass man ständig zwischen Losspiel-Anleitung, Begleitheft und Legendenkarten jongliert und dementsprechend lange benötigt, bis man eine Antwort gefunden hat. In Legende fünf kommen im Spiel so viele Legendenkarten mit Regeln ins Spiel, dass man zum Teil schlichtweg den Überblick über die Regeln verliert, irgendwann stellt man fest "Ach, da war doch noch was ...". Kleinste Überleser und kleine unsaubere Formulieren, die zu verschiedenen Interpretationen führen können, haben immerhin große Auswirkungen auf das Spiel, können sogar den Sieg kosten. Da hätte man sich an einigen Stellen der Regelredaktion noch genauere Arbeit gewünscht – dass das Regel-FAQ der Internetseite zum Spiel nicht gerade kurz ist und hier mehrfach sehr entscheidende Hinweise gegeben werden, wie die Regel in bestimmten Legenden ausgelegt werden soll, bestätigen diesen Eindruck.

Auch ein Homoludikus verliert nicht gerne

Der eben gelobte tolle Einfall, dass die Legendenkarten überraschende Wendungen in einem schon verloren geglaubten Spiel möglich machen, was das Spielgefühl dicht und in einer narrativen Geschichte verorten lässt, hat aber auch Schattenseiten. Spielt man eine Legende mehrmals, dann weiß man nun mal spätestens beim dritten Mal, was die Gruppe höchstwahrscheinlich noch erwartet und mit welcher Hilfe noch gerechnet werden kann. Hätte man die Anzahl des Legendenkartenpools erhöht, die für ein Spiel ausgewählt werden, hätte dies bestimmt für mehr Spannung auch nach mehreren Partien gesorgt. Überhaupt ist es nicht ganz einfach, das Spiel befriedigend über mehrere Partien zu spielen. Richtig gut flutscht es, wenn man mit derselben Spielegruppe die Legenden nacheinander durchspielt, da dann immer alle auf dem gleichen Wissensstand sind und gleich gut mit den Spielmöglichkeiten und -mechanismen umgehen können. Doch bekommt man dieselben Menschen für fünf Spielerunden plus diverse weitere Runden, wenn man eine Legende nicht gewonnen hat, zusammen? So ganz einfach ist das nicht immer. Frischt man die Gruppe mit einer/m Spielanfänger/in auf, funktioniert das Ganze noch, spielen aber drei Neue und ein "Alter Hase" das Spiel, dann ist es für Letztgenannten nicht ganz einfach, das kooperative Element zurückzudrängen und die Spielführung an sich zu reißen, wohl wissend, dass undurchdachte Anfänge und Schludrigkeiten zu Beginn den Sieg am Ende kosten können.

Hier muss auch die Schwierigkeitsstufe erwähnt werden, die in den ersten beiden Legenden sehr niedrig ist, sich dann aber in den Legenden drei bis fünf unglaublich erhöht – zum Teil sogar nicht schaffbar erscheint. Der Homoludikus spielt zwar, weil er sich der Herausforderung des Gewinnes stellen möchte – leichte Siege widersprechen dem, da ja keine Herausforderung – doch es kann auch für "Vielspieler" sehr frustrierend sein, wenn sie 10-20 Minuten in den Spielaufbau investieren (besonders für die letzten Legenden benötigt man länger), dann bis zu 120 Minuten spielen (ja, manche Legenden schafft man nicht in 90 Minuten) und dann alle verlieren. Wo ansonsten wenigstens ein Spieler am Tisch gewinnt, der sich dann berechtigterweise freuen kann, und der Rest darüber knobelt, was man denn nun schlechter als der/die Gewinner/in gemacht hat, da hinterlässt Andor nach zwei Stunden oftmals: vier Verlierer/innen. Die sich dann spätestens in Legende 5 immer wieder fragen, ob sie nicht einfach abbrechen und noch einmal von vorne beginnen sollen, da der Sieg nicht mehr erreichbar scheint.

Die Legenden von Andor werden Schule machen

Da sich die Schwierigkeitsstufen bei Andor leicht erhöhen lassen (mittlerweile gibt es auf der Internetseite diverse Regeltipps und Promokarten, die am Schwierigkeitsrad drehen), wäre es nicht schlecht gewesen, man hätte den Schwierigkeitsgrad zum Teil ein bisschen herunter runtergeschraubt. Bei fast allen Legenden ist es so, dass am Ende Sieg oder Niederlage dicht beieinanderliegen und dementsprechend am Ende jeder Schritt oder Kampf ganz genau durchdacht werden muss – so kommt es an den letzten beiden "Tagen" des Spiels zu einer etwas anstrengenden Durchrechnerei, welche das Spiel dann ein bisschen zu einer "mechanischen Angelegenheit" verwandelt. Aber genug jetzt der Kritik. Auch wenn sich an nicht wenigen Punkte ein paar Schwachstellen finden lassen, mit Andor ist Menzel fraglos etwas ganz Großes gelungen, welches Mühelos das Kritisierte vom Tisch fegt. Selbst das berühmte "i-Tüpfelchen" in Form von gendergerechten Spielfiguren wohnt Andor inne. Es ist nicht ganz unwahrscheinlich, dass Spielprinzip und -mechanik von Michael Menzels Erstlingswerk in den nächsten Spielesaisons Schule machen und einige Nachahmer finden wird. Warten wir es ab, auch wenn ich mich mit der Prognose sehr weit aus dem Fenster lehne – in fünf Jahren könnten Die Legenden von Andor, in ihrer Bedeutung für die (Entwicklungs-) geschichte des Mediums Brettspiele, in einem Atemzug mit den Siedlern von Catan und Dominion genannt werden. Chapeau, Herr Menzel!

Fazit
Die Legenden von Andor ist ein kleines Juwel. Geschichte, Illustration und Spielmechanik greifen in kaum gekannter Weise ineinander und ziehen die Spielenden mühelos in ihren Bann. Kooperativ- und fantasybegeisterte Familien und Spielegruppen, bei denen die Zusammensetzung der Gruppe nicht wechselt, werden wahrscheinlich etwas länger anhaltenden Spaß haben, als andere. Zwar sind die Legenden zum Teil etwas schwer geraten und die Regeln hin und wieder unübersichtlich, dies lässt sich aber für den erhaltenen Spielspaß in Mittelerde Andor aushalten. Michael Menzel ist mit Die Legenden von Andor etwas ganz Besonderes gelungen, etwas, das man auf keinen Fall verpassen sollte.



25. März 2013 - (jd)

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